Interview »Ändert sich nun die Militärpolitik?«
junge Welt 02.11.98





02. 11.98 - Interview junge Welt
»Ändert sich nun die Militärpolitik?«

junge Welt sprach mit Jürgen Grässlin

(Der Buchautor Jürgen Grässlin (u. a. »Lizenz zum Töten: Wie die Bundeswehr zur internationalen Eingreiftruppe gemacht wird«) ist Sprecher des »Dachverbandes der Kritischen AktionärInnen Daimler-Benz« und Vorsitzender des Rüstungsinformationsbüros Baden-Württemberg (RIB) und als zwölfter der baden-württembergischen Landesliste von B90/Grüne nicht in den Bundestag eingezogen.)

F: In einer Erklärung, die von zahlreichen Organisationen der Friedensbewegung herausgegeben und auch von Ihnen mitunterschrieben wurde, heißt es unter anderem, die Koalitionsvereinbarungen zwischen SPD und Bündnisgrünen seien »unbefriedigend und für uns nicht akzeptabel«. Was ist aus friedenspolitischer Sicht unakzeptabel?

JG: Der Verteidigungshaushalt wird nicht angetastet und damit praktisch die Rühe-Politik der Verstetigung des Etats auf dem Niveau der Ost-West-Konfrontation fortgesetzt. Dabei bestünde gerade jetzt die Möglichkeit, quantitativ und qualitativ abzurüsten. Genau das fordern wir mit unserer Initiative »Fünf für Frieden«: die kontinuierliche Reduzierung des Verteidigungsetats um mindestens fünf Prozent degressiv pro Jahr. Ohne sofortigen Einstieg in die Abrüstung der Bundeswehr - und das heißt auch Verzicht auf die geplanten neuen Waffenbeschaffungen bei Kampf- und Transportflugzeugen, bei Helikoptern und militärischen Transportflugzeugen und anderen Großwaffensystemen - ist die geplante Wehrstrukturkommission eine unglaubliche Mogelpackung.

F: Die Friedensbewegung fordert auch den Ausstieg aus dem Eurofighter-Projekt. Die Verträge sind unterschrieben. Ist der Ausstieg jetzt überhaupt noch möglich?

JG: Wenn sich die Vertragspartner einigen, können Verträge natürlich jederzeit gekündigt werden. Aus dem Eurofighter- Projekt müssen wir meines Erachtens sofort aussteigen. Hält die DASA an ihren astronomischen Regreßforderungen fest, dann sollte die neue Regierung den Herren in Ottobrunn klarmachen, daß der Eurofighter das letzte Waffensystem gewesen ist, das die Bundeswehr bei der DASA kauft.

F: In der Erklärung der Friedensbewegung heißt es: Die auch von den Bündnisgrünen vor der Wahl geforderte Auflösung der »Krisenreaktionskräfte« und des »Kommandos Spezialkräfte« sei eine Frage der Glaubwürdigkeit, da nur so eine tatsächliche europäische Friedensordnung aufgebaut werden könne. Gegenwärtig wird in der Friedensforschung genau das Gegenteil festgestellt: Eine Entmachtung von UN und OSZE und eine Instrumentalisierung der NATO für machtpolitische Interessen. Muß vor diesem Hintergrund die Diskussion nicht viel grundsätzlicher geführt werden? Und was ist aus der Forderung »Raus aus der NATO« bzw. »Auflösung der Militärblöcke« geworden?

JG: Die SPD hat sich in dieser entscheidenden Frage ohne Abstriche durchgesetzt. Die NATO-Fixierung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik könnte tatsächlich dann allmählich aufgebrochen werden, wenn es gelingt, alternative Sicherheitsstrukturen in Europa aufzubauen und vor allem die OSZE zu stärken. Am Beispiel Kosovo sehen wir doch dieser Tage, daß weder militärische Gewalt noch ihre Androhung den Konflikt tatsächlich löst. Eine gestärkte OSZE und reformierte UNO schwächt automatisch die interventionistische NATO. Ich sehe im Moment zwar keine realistische Möglichkeit für einen deutschen NATO-Austritt, aber unser Ziel sollte die Selbstauflösung der NATO sein. Schließlich existiert ihr Widerpart, der Warschauer Pakt, schon seit 1991 nicht mehr.

F: 1991/92 war die Position »Für Bundeswehreinsätze auch out of area« eine Minderheitenposition innerhalb der CDU/CSU. Unter Rühe avancierte sie zur Regierungslinie. Heute wird sie sogar von SPD und Bündnisgrünen bei Abstimmungen im Bundestag mit umgesetzt. Hat die Friedensbewegung in den letzten Jahren ihre gesellschaftspolitische Relevanz eingebüßt, den Rückzug angetreten, resigniert?

JG: Ich gebe zu, wir sind in die Defensive geraten. Und zwar vor allem deshalb, weil die Interventionsdebatten weniger mit rationalen als mit rein moralischen Argumenten geführt wurden. Wenn Rühe oder Scharping oder Fischer sagen, man müsse intervenieren, weil der Winter kommt und die Flüchtlinge im Kosovo erfrieren und verhungern, dann erzeugt das Wirkung. Dabei ließe sich das Flüchtlingsproblem durch die Öffnung der Grenzen und eine Aufnahme der Betroffenen lösen. Die Befürworter von Militäreinsätzen verschweigen geflissentlich, daß der Militäreinsatz in erster Linie weitere Flüchtlingsbewegungen nach Italien und Zentraleuropa verhindern soll. Was aber ist mit den Millionen von Flüchtlingen im Kongo, in Burundi, dem Sudan und anderswo? In mehr als 30 Ländern der Erde wird gegenwärtig Krieg geführt, gibt es notleidende Zivilbevölkerung und Flüchtlinge, die vor dem Hungertod stehen. Die gesellschaftliche Relevanz des Pazifismus und der zivilen Konfliktprävention und -bearbeitung ist größer denn je. Wir müssen uns als Basisbewegung wieder stärker bemerkbar machen. Es gibt nun eine Regierung, die mit vergleichsweise hohem moralischen und gesellschaftlichen Anspruch angetreten ist: Dessen Einhaltung müssen wir einfordern - dazu gehört natürlich auch der Druck von der Straße.

F: Sind die getroffenen Koalitionsvereinbarungen nicht schlicht der Preis der Regierungsbeteiligung?

JG: Machtbeteiligung bedeutet selbstverständlich auch das Teilen von Macht und das Eingehen von Kompromissen. Bündnis 90/Die Grünen, deren Mitglied ich bin, haben nicht die absolute Mehrheit erzielt. Dennoch sind mir viele Grüne zu kompromißlerisch und in Kernfragen der Politik zu nachgiebig. Doch das Hauptproblem ist und bleibt die SPD, die den Pazifismus ein weiteres Mal in ihrer langen Geschichte mit Füßen tritt.

Interview: Thomas W. Klein, Wiesbaden