Rede von Jürgen Grässlin »Zivilcourage, die ich meine.
Warum zivilcouragiertes Handeln im 21. Jahrhundert existentiell ist«
anlässlich der Verleihung des »Preises für Zivilcourage«
der Solbach-Freise-Stiftung am 14. November 2009
in der Kulturmühle Buchhagen bei Bodenwerder


Zivilcourage, die ich meine

Warum zivilcouragiertes Handeln im 21. Jahrhundert existentiell ist

Rede von Jürgen Grässlin anlässlich der Verleihung des
»Preises für Zivilcourage« der Solbach-Freise-Stiftung
am 14. November 2009 in der Kulturmühle Buchhagen

Sehr geehrte Damen und Herren,

heute wird mir der »Preis für Zivilcourage« des Jahres 2009 der Solbach-Freise-Stiftung verliehen. Über diese Preisverleihung freue ich mich in ganz außerordentlich: Zum einen, weil dies der erste Preis ist, der mir persönlich zugesprochen wird. Zum anderen, weil mit diesem Preis zivilcouragiertes Handeln geehrt wird.

Wenn wir uns fragen, was gemeinhin unter Zivilcourage verstanden wird, assoziieren viele von uns unwillkürlich das engagierte Auftreten einzelner mutiger Bürgerinnen und Bürger gegen Gewalttäter, die ihrerseits wehrlose Berber, Behinderte oder Ausländer auf der Straße oder in U-Bahnen bedrohen, zuweilen ermorden.

Damit liegen wir nicht falsch, denn mutiges Einschreiten im Falle widerrechtlicher Gewaltausübung lässt sich auch in der klassischen Definition als »Zivilcourage« bezeichnen. Nachgewiesen wird dieser Terminus erstmals als »courage civil« im Jahr 1835 in Frankreich. Gemeint war damals allerdings der Mut eines Einzelnen sowie als »courage civique«, als staatsbürgerlicher Mut.

Durchaus nachvollziehbar bezeichnet es der Arzt und Friedensaktivist Till Bastian als »Ironie der Geschichte«, dass der Begriff der »Zivilcourage« in Deutschland erstmals im Jahr 1864 vom »eisernen Kanzler« öffentlich ausgesprochen worden ist. Otto von Bismarck warf einem Verwandten in einer Debatte des Preußischen Landtags mit folgenden Worten mangelnde Unterstützung seiner Person vor: »Mut auf dem Schlachtfelde ist bei uns Gemeingut, aber Sie werden nicht selten finden, dass es ganz achtbaren Leuten an Zivilcourage fehlt«, so der erste Reichskanzler des Deutschen Kaiserreichs in seiner äußerst zweifelhaften Interpretation von »Zivilcourage«

Doch keine Angst, ich will Ihnen im Folgenden keine etymologische Exegese über den Ursprung und die Entstehung des Zivilcourage-Begriffs, keine historische Abhandlung über dessen semantischen Wandel, keinen philosophischen Vortrag über das Wesen und Sein und auch keinen wissenschaftlichen Fachvortrag über die empirisch belegbaren Folgewirkungen der Zivilcourage im Allgemeinen und zivilcouragierten Handelns im Besonderen referieren. Wollen Sie sich jedoch in besagtem Sinne dem Thema annähern, so empfehle ich Ihnen zum Einstieg, den Suchbegriff »Zivilcourage« bei google.de einzugeben. Die Ihnen in Sekundenschnelle dargebotenen rund 646.000 Begriffserklärungen und Fallbeispiele dürften zumindest für den Anfang genügen.

Anlässlich der heutigen Preisverleihung will ich Ihnen vielmehr anhand exemplarisch ausgewählter Beispiele Zivilcourage, die ich meine vorstellen und Ihnen darlegen, weshalb zivilcouragiertes Handeln angesichts der Lage der Menschheit im 21. Jahrhundert von existentieller Bedeutung ist.


Rage als Voraussetzung für Zivilcourage

Der Begriff der Zivilcourage beinhaltet die Forderung nach Courage, nach Mut, aber auch nach Rage, nach Wut. Lassen Sie mich mit Letztgenannter beginnen. In Rage gerate ich angesichts der Tatsachen,

Vielzählige weitere Beispiele ließen sich nennen.

Spätestens mit der Unterzeichung der Charta der Vereinten Nationen im Jahre 1945 soll die Durchsetzung des Gewaltverbots zu Abrüstung führen. Unzählige Abrüstungskonferenzen folgten, die Zahl der Kriege und Bürgerkriege aber ist noch immer exorbitant hoch. Seit bald vier Jahrzehnten – Dennis Meadows Studie »Die Grenzen des Wachstums« erschien 1972 – warnen renommierte Wissenschaftler vor dem ökologischen Kollaps unseres Planeten.

Dieser wird durch unsere Lebens- und Wirtschaftsweise massiv befördert. Das Schremppsche Prinzip des Shareholder Value – Speed! Speed! Speed! – hat sich durchgesetzt, auch bei der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen.


Von der Rage zur Zivilcourage

Sie glauben gar nicht, wie wütend ich bin, dass unser aller Engagement bislang nicht ausgereicht hat, diesem Destruktionsszenario erfolgreich entgegenzutreten. Wahrscheinlich waren wir zu angepasst, zu zurückhaltend, zu freundlich gegen über den politisch Verantwortlichen. Rage ist also sinnvoll, im 21. Jahrhundert ist sie überlebensnotwendig. Dabei muss es uns gelingen, unsere Wut in Handeln, in Aktion, in Gegenwehr, in Widerstand zu transformieren mit der Zielsetzung der Umkehr, der positiven Veränderung hin zu einer besseren Welt. Genau dabei benötigen wir Zivilcourage.

Ich lasse mich gerne eines Besseren belehren. Aber ich setze wenig Hoffnung darauf, dass der Wandel zum Guten allein von oben kommt, dass die Politik ein Einsehen zeigt, dass sich Regierungspolitikerinnen und -politiker aus dem Netz so genannter »Sachzwänge«, aus ihrer Abhängigkeit und dem Filz von Korruption lösen, dass sie ihr Denken und Handeln urplötzlich nach den Interessen der Bürgerinnen und Bürger in ihren Ländern richten.

Nein! Der Wandel zu einer besseren Welt, die Rückkehr zu Moral und Ethik muss aus der Zivilgesellschaft angestoßen werden, die Initialzündung muss von unten erfolgen. Vorbei sind die Zeiten der Schweigestunden, gekommen ist die Ära aktiven Handelns. Wollen wir die drohende Apokalypse verhindern, so wird von uns mehr verlangt, müssen mehr tun, müssen wir zivilcouragierter handeln als bisher. Dabei muss jede und jeder von muss das eigene Ziel und den eigenen Weg definieren.


Zivilcourage zeigen – die Kampagne
»Stoppt das G36-Gewehr!« unterstützen

Für mich habe ich mein Ziel und meinen Weg definiert. Als Pazifist stelle ich mein Leben in den Dienst der Vision einer Welt ohne Militär und Rüstungsindustrie. So lange ich lebe – und da bin ich Realist – wird diese Zielvorstellung eine Utopie bleiben. Doch ich möchte mit dem Einsatz auch meines Leben erreichen, dass die Utopie konkreter wird, dass Schritte zur Abrüstung und Entmilitarisierung eingeleitet und umgesetzt werden, dass Waffenexporte gestoppt werden.

Europas führender Pistolen- und Gewehrhersteller ist die Firma Heckler & Koch in Oberndorf am Neckar. Mehr als 1.500.000 Millionen Menschen sind bis zum heutigen Tag durch eine Kugel aus dem Lauf einer H&K-Waffe getötet worden, weitaus mehr verstümmelt. Damit ist Heckler & Koch Deutschlands tödlichstes Unternehmen.

Die Bilder lassen mich nicht mehr los: Bei meinen vielfachen Reisen nach Türkisch-Kurdistan – zuletzt im Frühjahr diesen Jahres – und nach Somalia, bin ich über Massengräber gegangen. Dort bin ich dem Gewehrtod begegnet. Ich habe Interviews geführt mit mehr als 220 Überlebenden des Einsatzes von H&K-Waffen. Fast alle sind sie traumatisiert, viele verstümmelt, haben Mutter oder Vater, Schwester oder Bruder, Tochter oder Sohn durch den Einsatz der in Deutschland entwickelten Gewehre und Maschinenpistolen verloren. Die so genannten »Kleinwaffen« sind eine Saat des Teufels. Kein anderer Waffentyp ist derart mörderisch. Zwei von drei Opfern sterben in Kriegen und Bürgerkriegen durch den Einsatz von Gewehren.

Mit den Einnahmen der rund 40 Lesungen meines Buches »Versteck dich, wenn sie schießen«, habe ich den Fonds des Deutschen Aktionsnetzes Kleinwaffen Stoppen (DAKS-Fonds) gegründet. Sollten Sie eine Weihnachtsspende tätigen wollen, dann darf ich mich im Namen der Gewehropfer von Herzen bedanken.

Wir – und ich sage bewusst wir – können viel mehr erreichen, als uns gemeinhin zugetraut wird. Für das kommende Jahr 2010 haben wir uns viel vorgenommen:


Zivilcourage zeigen – die Kampagne »Wir kaufen keinen Mercedes: Boykottiert Rüstungsexporte!« unterstützen

Deutschland ist – allen voran aufgrund der massiven Daimler/EADS-Rüstungsexporte – Nummer 3 der Weltwaffenexporteure. Die Daimler AG ist ein führender Anteilseigner am Rüstungsriesen European Aeronautic Defence and Space Company (EADS). Die Produktpalette von Daimler/EADS reicht über Beteiligungen an weiteren Rüstungskonzernen von Kampflugzeugen über Militärhubschrauber bis hin zu Atomwaffenträgersystemen. Damit ist die EADS der einzige europäische Konzern, der noch Trägersysteme für Massenvernichtungswaffen herstellt.

Die EADS rangiert mit Rüstungsverkäufen im Volumen von 12.600 Millionen US-Dollar auf Platz 7 der Weltwaffenexporteure und auf Platz 2 in Europa. Das Unternehmen exportiert Waffen an menschenrechtsverletzende Staaten, z.B. Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Pakistan, Indien und Malaysia.

Mit unserer Kampagne »Wir kaufen keinen Mercedes: Stoppt Rüstungsexporte!« werden wir den Druck auf den größten deutschen Produzenten und Exporteur von Großwaffensystemen – Daimler/EADS – massiv verstärken:

Beide Kampagnen erfolgen in Zusammenarbeit befreundeter Friedensorganisationen in Deutschland, in den USA, in Frankreich, Großbritannien und Spanien.


Zivilcourage – das Erfolgsmodell

In diesen Tagen haben uns die Bilder aus Berlin eines gezeigt: Das Mauerwerk, das Ost- und Westdeutschland und die raketenstarrenden Atomarsenale der NATO und des Warschauer Pakts von einander getrennt hat, dieses Mauerwerk ist eingerissen worden. Eingerissen, von Menschen an der Basis, von unten, mit friedlichen Mitteln.

All diejenigen Menschen, die dem Polizei- und Militärapparat der DDR mit ihren ungeschützten Körpern entgegengetreten sind, haben Zivilcourage bewiesen. Sie haben uns gezeigt: Zivilcourage ist nicht nur ein wünschenswertes Denkansatz, nicht nur ein bloßes Theoriemodell. Zivilcourage bedeutet vor allem den Willen zur Veränderung, zur Verbesserung durch aktives Handeln. Und: Zivilcourage ist erfolgreich!

In diesem Sinne fordere ich Sie zum Handeln auf, gemeinsam mit anderen.
Zeigen Sie Zivilcourage, handeln Sie zivilcouragiert:

Zivilcourage, die ich meine, legt den Finger in die Wunde all dieser Missstände.
Zivilcourage gibt den stummen Opfern von Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung eine Stimme.
Zivilcourage kämpft mit den Mitteln der Gewaltfreiheit gegen Gewalt für eine friedlichere, gerechtere, sozialere und ökologischere Welt.
Wenn wir diesen Kampf gemeinsam kämpfen, wird die Zivilcourage erfolgreich sein
– davon bin ich überzeugt.


Zum Verfasser

Als Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), Sprecher der Kritischen AktionärInnen Daimler (KAD), Sprecher des Deutschen Aktionsnetzes Kleinwaffen Stoppen (DAKS) und als Vorsitzender des RüstungsInformationsBüros (RIB e.V.) setzt sich Jürgen Grässlin aktiv für konkrete Schritte zur Abrüstung ein. Grässlin ist Autor einer Vielzahl kritischer Sachbücher über Rüstungs-, Militär- und Wirtschaftspolitik.
Kontakt und Informationen: Tel. 0761-76 78 208, Mob.: 0170-611 37 59
j.graesslin@gmx.de