Rede von Jürgen Grässlin
anlässlich der Verleihung des Aachener Friedenspreises 2011
»AUFSCHREI wider den Waffentod, für das Leben«
am 1. September 2011 in Aachen in der Aula Carolina



Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde,
liebe Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Gewerkschaftsbundes,
sehr geehrte Damen und Herren,


was für eine Freude, heute mit euch und Ihnen den Aachener Friedenspreis entgegennehmen zu dürfen. Viele von euch, mir in jahrlanger Friedensarbeit verbunden, sind heute aus Aachen und aus ganz Deutschland hierher gekommen. Seid alle herzlich gegrüßt.

Für die Verleihung dieses renommierten Preises danke ich den Mitgliedern des Aachener Friedenspreises e.V. von Herzen. Gleichsam gilt mein herzlicher Dank den Freundinnen und Freunden der Friedensinitiative Konstanz: Maik, Ingrid und Hans-Peter, Andrea und Roland. Ohne sie stünde ich heute nicht hier, sie haben mich zum Aachener Friedenspreis vorgeschlagen. Auch danke ich sehr herzlich Dr. Rolf Gössner der Internationalen Liga für Menschenrechte für seine einfühlsame Laudatio.

Zu guter Letzt aber danke ich meiner Ehefrau Eva für ihre Liebe und Unterstützung in guten und in schlechten Zeiten. Ich denke hier vor allem an die zurückliegenden schweren Jahre, als die Daimler AG versuchte, mich mit juristischen Mitteln mundtot zu machen – was vor dem Bundesgerichtshof gescheitert ist.

Mich freut die Auszeichnung mit dem Aachener Friedenspreis 2011 nicht nur persönlich, sondern auch als ein Mitinitiator und Mitbegründer einer Bewegung, die es in ihrer gesellschaftlichen Breite und Kraft in Deutschland noch nicht gegeben hat.

Warum ist es so wichtig, der Kampagne Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel! zum Durchbruch zu verhelfen? Weil wir dringend handeln müssen, weil wir unabänderbar ändern müssen, weil wir unumkehrbar umkehren müssen.

Ich möchte Sie und euch in meiner folgenden Rede auf eine ungewöhnliche Reise mitnehmen. Und ich möchte eindringlich um Unterstützung bitten.


AUFSCHREI
wider den Waffentod, für das Leben!

Der Waffentod fühlt sich wohl in unserer Zeit der Kriege und Bürgerkriege, der asymmetrischen Kriege mit ihren Terroranschlägen und Luftbombardements. Mit jeder Kugel, die einen Kopf trifft, mit jeder Granate, die einen Körper zerfetzt, mit jeder Bombe, die in Menschenmengen explodiert, erfreut er sich seiner Erfolge.

Der Waffentod ist in diesen Tagen ein gern gesehener Gast: in den USA, in Russland, in Deutschland – den weltweit führenden Rüstungsexportnationen. Wenn der Waffentod kommt, rollt die Bundesregierung den blutroten Teppich aus. Alle Achtung, gratuliert der Waffentod kalt grinsend, Europameister beim Waffenhandel ist ein tödlicher Titel!

Für gewöhnlich reicht dem Waffentod ein Besuch beim Bundesausfuhramt in Eschborn. Dort winkt man Exportanfragen der Rüstungsindustrie zumeist willfährig durch. Aber eben nicht die tödlichsten, nicht die in Krisen- und Kriegsgebiete.

Dazu muss sich der Waffentod zur Bundesregierung nach Berlin begeben. Hier im Kanzleramt tagt der Bundessicherheitsrat. Das Regierungsgremium befindet über besonders brisante Rüstungsexporte – und damit über die weltweite Sterbehilfe mit deutschen Waffen. Seit Jahrzehnten bereits berät der Waffentod diese Regierungsrunde bei allen wichtigen Exportgenehmigungen.

Dabei trägt er die Farben der Politiksaison: schwarz-gelb, rot-grün, schwarz-rot, momentan mal wieder schwarz-gelb – allesamt verlässliche Partner beim Geschäft ohne Grenzen. Die Couleur wechselte chamäleongleich, garantiert war das Wachstum beim Waffenhandel. Am Tisch des Waffentodes saßen die Kohls und Genschers, die Schröders und Fischers, die Merkels und Steinmeiers. Heute sitzen Angela Merkel und Guido Westerwelle, Philipp Rösler, Thomas de Maizière, Hans-Peter Friedrich, Wolfgang Schäuble, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dirk Niebel und Ronald Pofalla in der Runde.

Begrüßt von der Kanzlerin und rüstungsexportgetreuen Ministern, stehen heute rückblickend Fragen zum Libyen-Krieg und vorausschauend Fragen zum Saudi-Arabien-Iran-Krieg auf der Tagesordnung:

War es richtig, die Lieferung deutscher Militär-Lkw von Mercedes an den libyschen Diktator Gaddafi genehmigen zu lassen? fragt die Kanzlerin. Ja! antwortet der Waffentod, mein Freund Muammar al Gaddafi brauchte die Mercedes-Fahrzeuge für Panzertransporte ins Kriegsgebiet!

War es richtig, auch deutsche MILAN-Raketenwerfer der MBDA an Gaddafi zu exportieren? fragt die Kanzlerin. Ja! antwortet der Waffentod, mein Freund Muammar brauchte die Panzerabwehrwaffen im Kampf gegen die Rebellen!

War es hilfreich, dass G36-Gewehre, produziert bei Heckler & Koch in Oberndorf, wohl illegal über Zwischenhändler an das diktatorische Regime gelangten? fragt die Kanzlerin. Ja! antwortet der Waffentod, mein Freund Muammar brauchte diese hochpräzise tötenden Sturmgewehre im Vernichtungskrieg gegen die Aufständischen!

Dann lasst uns nun über den weiteren Waffenhandel mit Saudi-Arabien entscheiden, fordert Angela Merkel. Darf der Rüstungsriese EADS – größter Stimmrechtseigner ist die Daimler AG – weiterhin Eurofighter an das Königshaus in Saudi-Arabien ausführen? fragt die Kanzlerin. Ja! antwortet der Waffentod, mein Freund König Abdullah Bin Abdul Azizi al-Saud braucht die Kampfflugzeuge aus dem Christenland für kommende Kriege! Immerhin hat er bereits Bahrain bei kriegerischen Auseinandersetzungen militärisch unterstützt!

Dürfen die tödlichsten Waffen weltweit, Sturmgewehre vom Typ G36 von Heckler & Koch, in Lizenz in Al-Kharj nachgebaut werden? fragt die Kanzlerin. Aber ja! antwortet der Waffentod, mein Freund Diktator Abdullah muss die Demokratiebewegung im eigenen Land niederschießen können! Außerdem sind Gewehre die Massenvernichtungswaffen der heutigen Kriege. Viele Kriegsherren aus Afrika warten schon sehnsüchtig auf G36-Gewehre aus Saudi-Arabien!

Bleibt eine letzte Frage für heute: Darf das saudi-arabische Könighaus 200 Leopard-2-Panzer von Rheinmetall und Krauss-Maffei Wegmann erhalten? fragt die Kanzlerin. Aber ja! antwortet der Waffentod, früher habt ihr Deutschen doch die Diktatoren im Iran hochgerüstet, dann muss jetzt auch das verfeindete Saudi-Arabien bewaffnet werden!

Die Kanzlerin und ihre Minister nicken zustimmend. Gut, sagt Frau Merkel, dann lasst uns all diese Waffengeschäfte bewilligen: für Frieden und Freiheit, für Sicherheit und Stabilität und für die Wahrung der Menschenrechte! Genehmigung erteilt, denn die Freunde des Waffentodes sind auch unsere Freunde!

Ich bin ihm persönlich begegnet, dem Waffentod: bei meinen vielfachen Recherchereisen durch zerstörte Dörfer in Türkisch-Kurdistan, auf den Friedhöfen mit ihren ungezählten Grabsteinen aus der Zeit des Bürgerkriegs, in Krankenhäusern und Flüchtlingshäusern von Diyarbakir, auf den Exekutionsplätzen in Somaliland, beim Behindertentreffen in Berbera, in der Hilfsstation des Somaliländischen Roten Halbmondes in Hargeisa und in vielen Zelten und Hütten, in denen sich das Grauen vergangener Gewalttaten bis heute in den Gesichtern der Überlebenden widerspiegelt.

Mit jeder neuerlichen Reise in Länder, in denen bis heute deutsche Waffen wüten, begegne ich dem tödlich grinsenden Waffentod. Mit jedem Interview, das ich mit Menschen führe, die Gliedmaßen verloren haben, wie Abdirahman Dahir Mohamed. Mit einer Kugel aus dem Lauf eines in Deutschland entwickelten und in Lizenz gefertigten G3-Schnellfeuergewehrs wurde ihm das rechte Bein abgeschossen. Abdirahman hat seither Knochfraß, sein Oberschenkelknochen muss immer weiter abgesägt werden. Ich begegnete dem Waffentod beim Marsch zum Hinrichtungsplatz, an dem die Mutter von Samiira Jama Elmi exekutiert wurde. Ich traf ihn beim wiederholten Gang auf den Friedhof, auf dem die getötete Ehefrau, die Mutter und weitere Angehörige von Hayrettin Altun liegen.

Bis zum heutigen Tag habe ich mehr als 220 Menschen interviewt und teilweise biografiert, die Opfer des Einsatzes von Heckler & Koch-Waffen geworden sind. Stellen Sie sich vor, Sie stehen – wie ich – auf den Dorfplatz von Tiyaks im Südosten der Türkei und halten das Foto eines deutschen G3-Gewehres in die Höhe. Sie werden erschrecken, wie viele Menschen ihnen ihre Geschichte zu dieser Massenvernichtungswaffe erzählen. Abdirahman, Samiira und Hayrettin stehen pars pro toto für das Schicksal von Millionen Menschen, die Familienmitglieder und Freunde durch den Einsatz deutscher Waffen verloren haben, die zeitlebens verstümmelt oder schwer traumatisiert sind.

Wir kennen die Schuldigen des Mordens mit deutschen Waffen: Manager in der Rüstungsindustrie, die die Herstellung der Todesprodukte mit verantworten, Regierungspolitikerinnen und -politiker, die Waffenexporte an menschenrechtsverletzende und kriegführende Staaten genehmigen, sowie Soldaten und Kindersoldaten, Terroristen und Söldner, die die von Deutschland exportierten Waffen einsetzen.

Noch fühlt er sich wohl, der Waffentod: bei seinen Besuchen in Berlin bei der Bundesregierung, in Oberndorf – seiner Heimatstadt – bei Heckler & Koch, in Unterschleißheim und am Bodensee bei der EADS, in München bei Krauss-Maffei Wegmann, in Nürnberg bei Diehl, in Düsseldorf bei Rheinmetall, in Bremen bei Lürssen und an vielen weiteren Orten mit vielen weiteren Waffenschmieden in ganz Deutschland.

Noch fühlt er sich wohl – wir werden das ändern!

AUFSCHREI!

Vorbei die Zeit des Hinnehmens, des Ignorierens, des Wegschauens, des Stillschweigens und damit der tödlichen Akzeptanz. Gekommen ist die Zeit des sichtbaren Protestes, der gewaltfreien Aktionen, des lautstarken Aufschreis.

Wir schreien auf gegen den ganz legalen Waffenhandel der CDU/CSU/SPD/FDP/GRÜNEN-geführten Regierungskoalitionen!

Wir schreien auf gegen deutsche Kriegsprofite durch Waffenhandel mit kriegführenden Staaten, wie den USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und der Türkei!

Wir schreien auf gegen den Waffenhandel mit menschenrechtsverletzenden Regierungen in Angola, Brasilien, Indien, Indonesien, Israel, Malaysia, Pakistan, Nigeria, Saudi-Arabien, Thailand und den Vereinigten Arabischen Emiraten – um nur einige von weitaus mehr zu nennen!

Wir schreien auf gegen die Produktion des Todes und gegen Arbeitsplätze in der Industrie des Todes!

Wir schreien auf, weil Waffenhandel Beihilfe zu Mord – und im Falle der Kleinwaffen – Beihilfe zu Massenmord ist!

Wir schreien auf als Stimme für Millionen von Getöteten und Verstümmelten in der Folge der Exporte und Lizenzvergaben deutscher Waffen!

Wir schreien auf für Frieden, für Gerechtigkeit, für das Leben!

Wir schreien auf für Produkte für das Leben!

Wir schreien auf für die Ergänzung von Artikel 26 (2) des Grundgesetzes: "Kriegswaffen und sonstige Rüstungsgütern werden grundsätzlich nicht exportiert", so muss die Formulierung zukünftig lauten!

Genau deshalb haben wir im Mai 2011 die Kampagne Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel! ins Leben gerufen. Schon heute sind wir mehr als 100 Mitgliedsorganisationen aus der Friedens- und Menschenrechtsbewegung, aus der kirchlichen Friedens- und Entwicklungszusammenarbeit und viele weitere Einzelpersonen – so viele wie nie zuvor.

Lassen Sie uns gemeinsam den Waffentod aus Deutschland vertreiben!

Wenn Deutschland – der Europameister – aus dem Geschäft mit dem Waffenhandel aussteigt, sind wir dem weltweiten Frieden ein Stück näher. Stellen Sie sich diese Wucht vor, die wir in Zukunft mitbringen werden, wenn wir in den Vereinten Nationen als Friedensmacht auftreten – und nicht länger als der Hoflieferant menschenrechtsverletzender Regierungen und diktatorischer Regime.

Der Aachener Friedenspreis bringt Rückenwind für uns alle, die wir bei der Kampagne Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel! bereits mitmachen. Machen auch Sie nach Kräften mit!

Dafür danke ich Ihnen von Herzen.

Jürgen Grässlin,
Träger des Aachener Friedenspreises 2011