BZ-INTERVIEW »Grässlin über Waffenexport-Kontrollen:
‚Lax bis sehr lax'« in Badische Zeitung online
und Badische Zeitung Wochenendausgabe
vom 1./2. August 2015



BZ-Interview
Grässlin über Waffenexport-Kontrollen: »Lax bis sehr lax«

Der Mann ist beseelt von seiner Mission: Jürgen Grässlin will deutsche Waffenexporte stoppen, alle. Den Hersteller Heckler & Koch hat er gerade wieder verklagt. Ein Interview

[Foto JG] Grenzen öffnen für Menschen, Grenzen schließen für Waffen, fordert Jürgen Grässlin. Foto: Franz Schmider
[Grafik Ausfuhrgenehmigungen]
[Grafik Waffenexporte weltweit]

BZ: Herr Grässlin, seit Jahrzehnten schreiben Sie, welch präzise und tödliche Waffen in Oberndorf hergestellt und in alle Welt exportiert werden. Müssen Sie sich angesichts der technischen Probleme des G 36 korrigieren?

Grässlin: Das G 36 von Heckler & Koch ist und bleibt ein hoch präzise tötendes Sturmgewehr. Diese Kriegswaffe ist zurzeit in mehr als 30 Ländern im Einsatz, vielfach in Konfliktregionen. Besagte Probleme beziehen sich auf zweierlei Situationen: Erhitzung durch Dauerfeuer und massive Erhöhung der Außentemperatur. Im Kampfeinsatz in Afghanistan hatten Soldaten im Hochsommer Probleme.

BZ: Sorry, aber das können wir kaum glauben. Bei einer Kadenz von 600 Schuss pro Minute und den dabei entstehenden Temperaturen machen doch ein paar Grad Sommerhitze keinen Unterschied. Wurde das nicht getestet?

Grässlin: Vielfach bei der Bundeswehr, allerdings mit unterschiedlichen Ergebnissen. Mir liegt eine Fotoserie von G36-Beschusstests in Saudi-Arabien vor. Diese Bilder belegen, dass Probleme mit der Treffgenauigkeit bereits im Frühjahr 2006 aufgetreten sind.

BZ: Wurden also wissentlich Bundeswehrsoldaten mit schlechten Gewehren ausgestattet und in den Kampf geschickt?

Grässlin: Nach den mir vorliegenden Dokumenten stellt sich die Frage allen Ernstes. Wir haben Hinweise eines Insiders auf ein Urgent Secret Meeting, also eine Art Geheimtreffen auf Führungsebene bei H&K. Anlass sollen Reklamationen von Soldaten im Afghanistan-Einsatz gewesen sein. Der Informant behauptete, dass G36 krümme sich bei Hitze in der Wüste wie eine Banane. Bei der Abnahme des G36 durch die Bundeswehr habe man im Unternehmen die Qualitätsmängel überspielt. Sollte der Vorwurf zutreffen, dann könnte die Bundeswehr bewusst getäuscht worden sein. Dieser Vorgang ist auch Gegenstand unserer Strafanzeige vom 5. Juni 2015. Der Vorwurf begründet den Verdacht des Betruges in einem besonders schweren Fall. Was wirklich passiert ist, müssten Gerichte prüfen.

BZ: Aber im Verteidigungsministerium wusste man davon nichts.

Grässlin: Immerhin gab es Rückmeldungen von Soldaten im Einsatz, die sich über die unzureichende Treffergenauigkeit des G36 beschwerten. Und im Sommer 2011 wurde ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Betrugs eingeleitet. Die Rottweiler Staatsanwaltschaft erkundigte sich beim Bundesverteidigungsministerium über den Vertrag, der die Grundlage für die Beschaffung der G36-Gewehre bildete. Laut Antwort des Verteidigungsministeriums bildete der Vertrag vom 11. Juli 1995 die Grundlage. Daraufhin stellte die Staatsanwaltschaft Rottweil das Verfahren wegen Verjährung ein – was womöglich falsch war. Denn das Verteidigungsministerium ließ damals ungenannt, dass es zahlreiche Kaufverträge zu verschiedenen Versionen des G36 beziehungsweise deren Bestandteile gab – bis 2014 insgesamt 51. Ich fordere die Wiederaufnahme staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen. Gemeinsam mit Rechtsanwalt Holger Rothbauer habe ich im Juni 2015 auch Strafanzeige gegen das Verteidigungsministerium und den damaligen Verteidigungsminister Thomas de Maizière gestellt. Aus unserer Sicht besteht der Verdacht der Untreue in einem besonders schweren Fall. Immerhin wurden zum vollen Preis mehr als 170 000 Gewehre beschafft, die in bestimmten Situationen nicht treffgenau sein sollen. Inzwischen hat ja auch Verteidigungsministerin von der Leyen ihrerseits Strafanzeige gestellt.

BZ: Sie liegen seit Jahrzehnten mit Heckler & Koch im Dauerclinch. Spüren Sie eine Genugtuung?

Grässlin: Keinesfalls. Ich würde mich freuen, wenn die Bundeswehrsoldaten nicht länger in kriegerische Auslandseinsätze geschickt werden würden. Deutsche Soldaten und deutsche Waffen haben im Ausland nichts zu suchen.

BZ: Sie haben Heckler & Koch verklagt wegen der Lieferung von G 36-Gewehren nach Mexiko. Der Ermittlungseifer der Staatsanwaltschaft Stuttgart ist eher beschränkt.

Grässlin: Sehr beschränkt. Bei mehreren Treffen mit einem Aussteiger hatte ich umfassende Kenntnis erhalten, dass von Heckler & Koch nicht nur legal Waffen nach Mexiko geliefert wurden, sondern auch illegal. Summa summarum waren das mehr als 9000 Sturmgewehre – rund die Hälfte davon gelangte widerrechtlich in vier verbotene Unruheprovinzen. Seit Sommer 2014 liegt der Abschlussbericht des Kölner Zollkriminalamtes vor. Dieser deutet eindeutig darauf hin, dass bei H&K gegen deutsches Ausfuhrrecht verstoßen worden sein soll. Der ZKA-Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass gegen mindestens fünf Personen Anklage erhoben werden sollte. Ich habe wohlgemerkt vierzehn Personen angezeigt. Mich wundert tatsächlich, dass die Staatsanwaltschaft Stuttgart bis heute keine Anklage erhoben hat.

BZ: Worauf führen Sie das zurück?

Grässlin: Über die Hintergründe müsste ich mutmaßen. Aber diese Tatenlosigkeit ärgert mich maßlos. Denn wir reden nicht über den illegalen Export von Äpfeln oder Birnen, sondern von todbringenden Kriegswaffen. 2011 wurden eine Hausdurchsuchung mit 300 Beamten durchgeführt und Unmengen an Akten beschlagnahmt. Danach wurden gerade mal zwei Beamte mit der Auswertung beauftragt. Statt endlich Anklage zu erheben, wurde der ermittelnde Staatsanwalt zwischenzeitlich an eine andere Stelle abgeordnet, das Verfahren ruhte 2015 für mehrere Monate. Das ist ein Skandal, dass in einer solch brisanten Angelegenheit auch fünf Jahre nach Anzeigeerstattung noch immer keine Anklage erhoben wurde. Das ist kein Einzelfall. Der Rechtsstaat droht in der Problematik illegalen Waffenhandels zu versagen.

BZ: Waffengeschäfte finden immer in einer rechtlichen Grauzone statt. Umso bedeutender ist es, dass es eine funktionierende Kontrolle gibt. Wie sieht es damit aus?

Grässlin: Statt strikter Ausfuhrkontrollen erleben wir ein groß inszeniertes Täuschungsmanöver aller bisherigen Bundesregierungen in Form sogenannter Endverbleibserklärungen. Diese suggerieren: Niemand soll sich sorgen, die Waffen gehen nach Saudi-Arabien und dort bleiben sie. Abgesehen davon, dass Saudi-Arabien eine Diktatur ist, sind bereits die in deutscher Lizenz seit Anfang der Siebzigerjahre nachgebauten G3-Gewehre widerrechtlich in die Bürgerkriegsländer Somalia und Sudan verkauft worden. In der Türkei gefertigte Maschinenpistolen des Typs MP 5 tauchten – unter Bruch des Endverbleibs – in Indonesien und im Nahen Osten auf. Zwar gibt es seit Januar 2000 die Politischen Grundsätze zum Rüstungsexport, an deren Erstellung Gernot Erler maßgeblich beteiligt war. Demnach dürften an Länder, die gegen die Endverbleibsregelung verstoßen haben, keine Waffen mehr geliefert werden, bis der Rechtsverstoß geklärt ist. Aber diese Regelung wurde in keinem mir bekannten Fall angewandt. Im Gegenteil: Die Rechtsbrecher in Saudi-Arabien wurden 2008 mit einer G36-Lizenz belohnt. Und die neuen Post-Shipment-Kontrollen von Sigmar Gabriel sind extrem industriefreundlich – löcherig wie ein Schweizer Käse.

BZ: Halten Sie Waffenlieferungen unter allen Umständen für unzulässig? Also auch an die Kurden, die gegen den IS kämpfen?

Grässlin: Wir müssen uns in Erinnerung rufen, dass wir drei Gruppen haben für die Genehmigung: Geliefert werden darf an Nato-Partner und Nato-assoziierte Länder. Rüstungstransfers in Drittstaaten dürfen allenfalls in Ausnahmefällen genehmigt werden – umfassen allerdings mehr als 60 Prozent. Der Irak ist ein Land, gegen das ein Waffenexportembargo der Vereinten Nationen besteht. Dorthin – also an die Peschmerga – zu liefern bedeutet, auch das letzte Tabu zu brechen.

BZ: Was heißt das konkret?

Grässlin: Als Pazifist lehne ich Waffenexporte und Waffeneinsatz ab. Natürlich gibt es Grenzsituationen, in denen man nicht tatenlos wegsehen darf, wie Menschen abgeschlachtet werden. Dazu zähle ich das Morden im Warschauer Ghetto, in Srebrenica, in Ruanda, die Verfolgung der Jesiden im Nordirak. Ich hätte als Politiker dem klar befristeten Einsatz von Waffengewalt zugestimmt, um die dortigen Morde zu verhindern. Aber ich halte die Waffenlieferungen an die Peschmerga für völlig falsch. Erstens stellen sie einen massiven Rechtsbruch dar, Deutschland bricht ein UN-Waffenembargo und verstößt gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz und Außenwirtschaftsgesetz. Und der Transfers ist ethisch-moralisch äußerst zweifelhaft, weil man wahrscheinlich das Gegenteil dessen erreicht, was man will. Denn jetzt sind die Waffen in der Kriegsregion, sie werden jahrzehntelang bei zahlreichen Gefechten eingesetzt. Man hätte sinnvollerweise einen Fluchtkorridor für die Jesiden schaffen müssen.

BZ: Ist das die Alternative: Der IS mordet und wir sorgen für den geordneten Rückzug, indem wir einen Fluchtweg für die bedrohten Menschen sichern?

Grässlin: Der Korridor ist ein Lösungsbeitrag. Aber warum reagieren Regierungen erst dann, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist? Die Bundesregierung hätte längst an die Staaten herantreten müssen, aus denen heraus der IS mit Waffen ausgerüstet und mit Geld finanziert worden ist. Das sind aus deutscher Sicht befreundete Staaten wie Katar, Saudi-Arabien und die Türkei. In der militärischen Logik gedacht – die nicht die meine ist – hätte man Bodentruppen schicken müssen. Doch stattdessen rüstet die Bundeswehr jetzt die Peschmerga hoch, die früher oder später gemeinsam mit der PKK einen eigenen kurdischen Staat gründen wollen und in Konflikt geraten mit dem Nato-Partner Türkei. Wie schnell das Pulverfass eskalieren kann, erleben wir in diesen Tagen, da das türkische Militär PKK-Stellungen bombardiert.

BZ: Lassen sich mit politischem Druck laufende Massaker verhindern? Wie stoppt man Massenmörder?

Grässlin: Wenn die Staatengemeinschaft eine Lösung zu bieten hätte – militärisch oder nichtmilitärisch – dann wäre diese doch längst anwendet worden. Doch die Situation im Nahen und Mittleren Osten lässt sich mit noch mehr Gewehren oder Bomben nicht lösen: Denn Schiiten kämpfen gegen Sunniten, Schiiten gegen Schiiten, Moslems gegen Christen und Kurden. Kurzfristig helfen da weder Waffen noch Peace-Fahnen. Deshalb fordert die Kampagne Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel als Sofortmaßnahme: Grenzen öffnen für Menschen und Grenzen schließen für Waffen.

BZ: Im Fall Srebrenica hätten Sie ein Eingreifen der Blauhelme für richtig befunden. Können also Waffen auch schützen?

Grässlin: Natürlich können Soldaten unter Einsatz von Waffengewalt in bestimmten Ausnahmesituationen Leben retten. Das sage ich auch als Pazifist. Aber die Geschichte lehrt, dass das nur in ganz, ganz wenigen Fällen so sein kann. Schauen Sie sich an, was Militärinterventionen in Afghanistan, in Libyen und im Irak negativer Weise angerichtet haben. Der Schaden ist danach größer als zuvor. Wir dürfen den Kern der Friedensfragen nicht vergessen: Wie schaffen wir eine Welt, in der Konflikte anders als durch den Einsatz von Waffen angegangen werden? Mit welcher Strategie verhindern wir Bürgerkriege wie Jugoslawien, Libyen, dem Irak? Die Antwort umfasst alle Ebenen der Konfliktdeeskalation und der Diplomatie bei gleichzeitiger humanitärer Hilfe.

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