Buchartikel von JG »Millionen?
Ja, Millionen Opfer deutscher Gewehrexporte«,
erschienen im Buch
»Neue Denkanstöße für politische Alternativen«
publiziert im Verlag PapyRossa im Juni 2014



Millionen? Ja, Millionen Opfer deutscher Gewehrexporte

Von Jürgen Grässlin

1. Persönliche Vorbemerkung: drei Jahrzehnte der Recherche

Seit nunmehr drei Jahrzehnten recherchiere ich harte Fakten zum Themenbereich Waffenhandel. Beim RüstungsInformationsBüro (RIB e.V.) werten wir hierzu die nationale wie internationale militärische Fachpresse aus. Zudem treffe ich mich mit Beschäftigten der Unternehmen oder diskutiere mit Repräsentanten der Rüstungsindustrie, des Militärs und der Politik.

Im Mittelpunkt meiner Recherchen stehen die entscheidenden Fragen: Wer erforscht, entwickelt und produziert Kriegswaffen, Rüstungsgüter, wie z.B. Militärfahrzeuge, oder zivil wie militärisch nutzbare Dual-Use-Güter? Wer genehmigt aus welchem Grund Waffentransfers an kriegführende und menschenrechtsverletzende Staaten, selbst an Diktaturen? Auf welchen Wegen werden deutsche Waffen legal wie illegal in diese Länder transferiert? Und: Was passiert, wenn »Kleinwaffen«, wie Pistolen, Maschinenpistolen, Sturm- oder Maschinengewehre, in den Krisen- und Kriegsgebieten ankommen?

Von Anfang an hatte ich die Betroffenen des Einsatzes aus Deutschland gelieferter oder in deutscher Lizenz nachgebauter Kriegswaffen – allen voran des europaweit führenden Pistolen- und Gewehrfabrikanten Heckler & Koch (H&K) – im Blick. Bei zahlreichen Recherchereisen nach Südafrika, Kenia, Somalia und in die Türkei standen und stehen seit Ende der Neunzigerjahre die Opfer der deutschen Rüstungsproduktions- und -exportpolitik im Fokus meiner Recherchen.

In den besagten Staaten traf bzw. treffe ich Menschen, die – je nach gesammelter Erfahrung und erlittenem Schicksal – mehr oder minder präzise beschreiben können, mit welchen Waffen ihnen oder anderen Leid angetan worden ist. Bei diesen Zusammenkünften habe ich mit mehr als 220 Opfern des Einsatzes aus Deutschland gelieferter oder in deutscher Lizenz im Ausland nachgebauter G3-Gewehre des in Oberndorf am Neckar ansässigen Kleinwaffenproduzenten Heckler & Koch intensiv Gespräche geführt. Ausnahmslos alle von mir interviewten bzw. exemplarisch erstmals in dem Buch Versteck dich, wenn sie schießen biografierten Menschen sind angesichts der erlebten Kriegsgeschehnisse traumatisiert.(1)

Für manche der Betroffenen – allen voran für Zivilistinnen und Zivilisten – ist es nicht leicht, unterschiedliche Gewehrtypen verschiedener Hersteller aus den klassischen Produktions- und Lieferländern wie Russland, Deutschland, USA, Italien, Belgien oder Israel voneinander zu unterscheiden. Zumal deren Einsatz schlimmste Erlebnisse in Erinnerung ruft: von der Verletzung seiner selbst oder dem Tod von Freunden, Bekannten oder nahen Angehörigen. Bei meinen Befragungen, die zur Verifizierung vielfach an verschiedenen Tagen mit vergleichbaren Fragestellungen erfolgten, führte ich die Gesprächspartner notgedrungen in Situationen, in denen sie einen »Flashback« erlebten. Vor ihrem inneren Auge laufen genau die Ereignisse erneut ab.

Meist anders ist die Ausgangslage bei denjenigen, die als Kombattanten selbst von Schusswaffen Gebrauch machten und die Waffen- und Bautypen dementsprechend detailliert beschreiben können. Allerdings zeigte sich, dass auch die Täter häufig schwerste Traumatisierungen erlitten haben und medizinische Betreuung bräuchten, die die Opfer wie die Täter jedoch nur in den allerseltensten Fällen erhalten.

Sind diese höchst emotionsgeladenen Befragungen legitim? Aus Sicht der Befragten allemal, wie sie nachdrücklich betonen. Erfahrungsgemäß sind sie froh, dass sie in ihrer Notlage ernst genommen werden. Immer wieder wurde und werde ich von ihnen gebeten, über die schrecklichen Geschehnisse eben in dem Land zu berichten, deren Waffenproduzenten und Regierung sie für die Gewehrlieferungen verantwortlich machen. Den Opfern einer völlig enthemmten und vornehmlich profitorientierten Rüstungsexportpolitik eine Stimme zu geben, habe ich mir zur Lebensaufgabe gemacht.

2. Gewehre – die Massenvernichtungswaffen des 20. und 21. Jahrhunderts

Im Frühjahr 2010 publizierte das in Genf ansässige United Nations Development Programme (UNDP, Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen) eine aufschlussreiche Studie. Diese besagt, dass rund um den Globus jeden Tag durchschnittlich etwa 2000 Menschen ihr Leben durch gewaltsam ausgetragene Konflikte oder kriminelle Handlungen verlieren – die weit überwiegende Anzahl durch den Einsatz so genannter »Klein- und Leichtwaffen«.(2) »Leichte Waffen« umfassen Granatwerfer, Panzerabwehrkanonen und Mörser.

Anders als vielfach angenommen, sterben die allermeisten der in Kriegen und Bürgerkriegen Getöteten eben nicht durch den Einsatz von Großwaffensystemen. Fünf von hundert Menschen werden durch Beschuss mit Bomben, Granaten und anderen Geschossen aus Kampfpanzern, Militärhelikoptern, Kampflugzeugen oder Kriegsschiffen getötet. Schätzungen des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes zufolge werden durchschnittlich 95 von 100 Getöteten Opfer des Einsatzes von Klein- und Leichtwaffen.

Die wahren Massenvernichtungswaffen des 20. und 21. Jahrhunderts sind Handgranaten, Landminen und Mörser, Faustfeuerwaffen, wie Pistolen und Revolver, und allen voran Sturm-, Scharfschützen- und Maschinengewehre. Eine Waffengattung fällt dabei besonders negativ ins Gewicht: 63 Prozent – zwei von drei Menschen, die in kriegerischen Auseinandersetzungen ihr Leben verlieren – sterben durch Kugeln aus Gewehrläufen. An den Opferzahlen gemessen sind Gewehre damit die effizientesten aller Kriegswaffen.(3)

Schwierig gestaltet sich die Berechnung der Anzahl der sich weltweit im Umlauf befindlichen Kleinwaffen. Verschiedenen Schätzungen folgend waren 2009 weltweit bis zu 900 Millionen Kleinwaffen im Umlauf.(4) Aktuellere Untersuchungen gehen sogar von einem noch viel höheren Volumen aus.

Neben den rund 100 Millionen Kalaschnikow-Gewehren – unangefochten die Nummer 1 auf dem Kleinwaffen-Weltmarkt – befinden sich etwa 15 bis 20 Millionen G3-Schnellfeuergewehre der Heckler & Koch-»Waffenfamilie« (so die H&K-interne Bezeichnung) im Umlauf. Damit rangiert das in Deutschland entwickelte G3-Gewehr auf Platz 2 im Ranking der global verbreiteten Gewehre.(5) Auf den Plätzen folgen die Uzi der Israel Weapons Industries Ltd. (IWI), die M16 der Colt Defence LLC aus Hartford in den USA und die F-Gewehre der belgischen FN Herstal SA. Üblicherweise werden diese Gewehrtypen in Lizenzstätten in Europa, Asien oder Amerika nachgebaut.

3. Auf den Spuren des G3-Gewehrs in Türkisch-Kurdistan und Somalia

Bei meinen Recherchereisen konzentriere ich mich auf den Einsatz von Gewehren und Maschinenpistolen der Heckler & Koch GmbH, dem europaweit führenden Gewehr- und Pistolenfabrikanten und -exporteur. Das Problem: Auf den Schlachtfeldern und Exekutionsplätzen in aller Welt befinden sich in den seltensten Fällen Waffen aus einem einzigen Lieferland und eines Bautyps im Einsatz. Vielmehr stehen sich in der Regel verfeindete Kombattanten gegenüber, die – durch legale Direktexporte, vielfach legale und illegale Weiterexporte von Lizenznehmern oder durch Beutewaffen – beiderseits der Front über exakt dieselben Waffentypen verfügen. Wie also lässt sich beweisen, dass gerade das G3 oder die MP5, entwickelt von Heckler & Koch, die physische bzw. psychische Verletzung bewirkt hat?

Die Antwort kann nicht am Schreibtisch ermittelt werden. Sie kann nur von Betroffenen und Zeugen des Einsatzes besagter Kleinwaffen vor Ort gegeben werden. Unterstützt von Flüchtlings-, Friedens- und humanitären Hilfsorganisationen machte ich mich in Ländern auf die Suche, in denen aus Deutschland gelieferte oder in Lizenz gefertigte Kriegswaffen im Einsatz waren und sind. Wiederholt reiste ich nach Somaliland in Nordsomalia und nach Türkisch-Kurdistan im Südosten der Türkei.

Tatort Somaliland. Ein exemplarischer Fall ist der von Abdirahman Dahir Mohamed. Erstmals getroffen habe ich ihn vor gut zehn Jahren in einer Krankenstation des Somaliländischen Roten Halbmondes in Hargeisa. Als ich, wie so oft, mehrere Fotografien verschiedener Gewehrtypen in der Runde verletzter und kriegsversehrter Menschen in die Höhe hielt, schrie er bei der Ablichtung eines G3 laut auf. »Tschi three! Tschi three! This is the Tschi three!«, rief er lautstark, wild gestikulierend auf den Stumpf seines Beines zeigend.

Im Laufe dieser ersten Kontaktaufnahme und mehrerer Folgetreffen lernte ich seinen Lebensweg kennen und sein Schlüsselerlebnis. Im nordsomalischen Bürgerkrieg Ende der Achtziger und Anfang der Neunzigerjahre überfielen die Truppen des Diktators Siad Barre den Norden des Landes. Die in Somaliland lebenden Menschen sind friedliebend, sie wollten sich unabhängig erklären vom Bürgerkriegsland Somalia. Zur Strafe schickte Siad Barre Militäreinheiten, die mit ihren Kalaschnikow- und G3-Gewehren zahlreiche Massaker an der Zivilbevölkerung verübten. Seither reiht sich Massengrab an Massengrab. Genaue Opferzahlen sind nicht bekannt. Eines aber ist klar belegbar: die Herkunft der Schnellfeuergewehre. In Somaliland bin ich auf G3 der pakistanischen, iranischen und saudischen Lizenzfabrikation und aus Oberndorf gestoßen.

Abdirahman zählte zu den Soldaten, die mit einer Kalaschnikow ausgerüstet Widerstand leisteten. Ein Angreifer schoss ihm mit einer Kugel ins rechte Bein. Der Knochen zersplitterte G3-typisch in unzählige Teile. Der Siad-Barre-Soldat wurde von Abdirahmans Mitstreitern erschossen. Als Abdirahman wieder erwachte, hatten sie ihm besagtes Bein auf Kniehöhe mit einer Machete abgehackt und zugenäht. Die Tatwaffe lag neben ihm.

Das Gewehr, mit dem die Angreifer aus Mogadishu Abdirahmans Bein abgeschossen haben, stammt – wie wir heute wissen – unstrittig aus der Oberndorfer Fabrikation. Auf dem Dreieck über dem Magazin ist die Gewehrnummer »G3-A3 6514250« eingeprägt, darunter das Geweih des Beschussamtes Ulm.(6) Damit ist bewiesen, dass der heutige Teehausbesitzer und vielfache Familienvater Abdirahman Dahir Mohamed zeitlebens durch eine Kugel aus dem Lauf einer Oberndorfer Waffe verstümmelt wurde. Das Leid dieses einen Menschen aber nimmt kein Ende: Abdirahman hat Knochenfraß. In unregelmäßigen Abständen muss ihm ein weiteres Stück des mittlerweile kaum mehr existenten Oberschenkelknochens abgesägt werden.

Für viele Beobachter erstaunlich ist die Tatsache, dass die Angreifer aus Mogadishu besiegt werden konnten und in Somaliland Frieden einkehrte. Abdirahmans Botschaft ist so einfach wie nachvollziehbar: »Das G3 soll auf der ganzen Welt ausgelöscht werden«, fordert er nachdrücklich, »so wie alle Waffen.« Weil er nie wieder arbeiten kann, will er »Ausgleichszahlungen und Blutgeld von Deutschland«. Eine Forderung, die unerfüllt bleiben wird – wie die unendlich vieler seiner Leidensgenossen. Auch ein Grund dafür, dass er nicht weiß, wie er das Geld für die Medikamente aufbringen soll. Antibiotika und viele andere mehr.

Szenenwechsel – Tatort Türkei. Ein vergleichsweise klareres Bild ergibt sich bei der Analyse des von 1984 bis 1999 währenden Bürgerkriegs zwischen türkischen Sicherheitskräften (Militär-, Polizei- und Geheimdiensteinheiten) mit PKK-Kämpfern und Zivilisten im Südosten der Türkei. Meine zum Informantenschutz notwendiger Weise undercover geführten Interviews mit türkischen Soldaten ergaben eine eindeutige Vorgangsbeschreibung: Zwischen 80 und 90 Prozent der getöteten Kurdinnen und Kurden, so die gering voneinander abweichenden Aussagen meinerseits befragter Offiziere, wurden mit Schnellfeuergewehren des Typs G3 erschossen.

Damit steht zweifelsfrei fest, dass die Hauptvernichtungswaffe seitens der staatlichen Militäreinheiten das von H&K entwickelte G3 war. Das Schnellfeuergewehr wurde nach der Lizenzvergabe 1967 von Makina ve Kimya Endüstrisi Kurumu (MKEK) bei Ankara nachgebaut. Mittlerweile sind die G3-Gewehre durch neue HK33-Gewehre ersetzt, die gleichsam in Lizenz gefertigt werden.

Bei Aktionen von Polizisten gegen Kurden wurden im Häuserkampf H&K-Maschinenpistolen vom Typ MP5 eingesetzt, die seit Vergabe der Nachbaurechte 1983 bei MKEK hergestellt wird.

Die – wie alle Publikationen partizipierender und damit interessengesteuerter Kriegsparteien – mit Vorsicht zu betrachtende »Siegesbilanz« des türkischen Staates propagiert folgende Opferzahlen: Bis Dezember 1998 sollen laut Aussage des damaligen Staatspräsidenten Süleyman Demirel »mehr als 40.107 ‚Terroristen' unschädlich gemacht« worden sein. Zudem seien 5238 »Zivilisten« ums Leben gekommen. Von den rund 9000 Kurdendörfern im Südosten der Türkei wurden 3500 dem Erdboden gleichgemacht.(7)

Die Türkei und Somalia sind zwei augenscheinliche Beispiele von vielen, anhand derer sich der Fluch der Kleinwaffen offenbart. Beide Länderbeispiele stehen pars pro toto für das Töten mit deutschen Waffen rund um den Globus. Zugleich führen sie eine der zentralen Darstellungen der Rüstungsindustrie ad absurdum.

So kursiert nicht nur in Oberndorf die Schutzbehauptung, eine Waffe sei neutral. Schließlich könne man auch mit einer Gabel Menschen töten. So absurd die Vorstellung im Einzelfall erscheint, so schlüssig ist das Gegenargument: Schlichtweg unmöglich ist, mehr als 35.000 Kurdinnen und Kurden zu »ergabeln«. Ein Gewehr dient eben nicht als Museumsstück, sondern im Kriegseinsatz per »Dauerfeuer« zur massenhaften Ermorden von Menschen.

4. Illegale G36-Gewehrexporte – unsere Strafanzeigen gegen Heckler & Koch

Die Techniker in Oberndorf haben längst dafür gesorgt, dass die Nachfolgegeneration des G3 und der MP5 den Weltmarkt erobern. In den vergangenen Jahren erfolgten erste Exporte einer völlig neuen Generation von H&K-Waffen. Zu ihnen zählen die Maschinenpistolen MP7 und UMP, die Sturmgewehre G36, HK416 und HK417, das Maschinengewehr MG4 u.v.a.m..

Als aus militärischer Sicht besonders effizient könnte sich die neue »Wunderwaffe« XM25 entpuppen. Die von ATK in den USA und H&K in Deutschland entwickelte Granatmaschine kann um die Ecke schießen. Nach ersten Einsatztests an Kriegsgegnern in Afghanistan zeigten sich Soldaten der US-Streitkräfte angesichts der verkürzten Gefechtsdauer bei erhöhter Trefferquote äußerst erfreut. Auf der nichtoffiziellen Firmenwebsite www.hkpro.com jubilieren H&K-Fanatiker: »Die XM25 ist die tödlichste Handfeuerwaffe im Arsenal der Army.« (8)

Noch ist das XM25 nicht eingeführt, noch liegt der Schwerpunkt bei der neuen Tötungsmaschine G36 – einem vergleichsweise leichten, handlichen und präzise treffenden Sturmgewehr. Mit dem G36 schießen inzwischen Sicherheitskräfte in etwa 30 Staaten. Dessen Kadenz liegt mit theoretisch bis zu 750 Schuss pro Minute, höher noch als die Schussfrequenz des G3. Krieger in aller Welt loben die Robustheit, Treffgenauigkeit und Durchschlagskraft des G36.

Richtig Geldverdienen aber lässt sich seitens des G36-Lizenzgebers Heckler & Koch vor allem mit der Erteilung der Nachbaurechte, dem Aufbau ganzer Waffenfabriken inklusive der Ausbildung und der Schulung der Lizenznehmer.(9) Bereits 1998 genehmigte die von Helmut Kohl und Klaus Kinkel geführte Bundesregierung die Errichtung einer ersten G36-Lizenzfabrik in Spanien. Zehn Jahre danach erteilte die von Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier geführte große Koalition eine zweite Genehmigung »für die Ausfuhr von Technologieunterlagen und Herstellungsausrüstung nach Saudi-Arabien zur Fertigung bestimmter Bestandteile des automatischen Gewehres G36«.(10)

Für H&K erwies sich die G36-Lizenz an die Machthaber in Riad als äußerst lukrative Geldquelle. Rund 250 Millionen Euro – in etwa der Jahresumsatz des mittelständischen Unternehmens – sollen in die Konzernkasse gespült worden sein. Die Prognose ist wenig gewagt: In den folgenden Jahrzehnten wird sich dieser Transfer von Herstellungsmaschinen und Blaupausen als der tödlichste aller Rüstungsdeals erweisen. Wie bei den illegalen Weiterlieferungen von G3-Gewehren wird die saudische Herstellerfirma MIC auch G36-Sturmgewehre an andere Staaten ausführen.(11) Wie beim G3 wird MIC unterzeichnete Endverbleibserklärungen missachten und erneut kriegführende Staaten auf dem afrikanischen Kontinent beliefern. Wie beim G3 wird die verantwortliche Bundesregierung den Rechtsbruch ignorieren und nicht einmal die Rücknahme der Lizenz fordern, geschweige denn durchsetzen.

Und noch ein Weg fördert die weltweite Verbreitung der G36-Gewehre. Nachweislich aus der Produktion des Oberndorfer Stammwerks stammende Sturmgewehre tauchten in den vergangenen Jahren widerrechtlich in den Kriegsländern Georgien und Libyen sowie in Unruheprovinzen Mexikos auf.

Über letztere erteilte mir ein direkt in den Fall involvierter Mitarbeiter umfassend Auskunft. Als ihm die Illegalität des Waffengeschäfts bewusst wurde, verließ er Heckler & Koch umgehend. Daraufhin stellte ich über meinen Rechtsanwalt Holger Rothbauer im April 2010 Strafanzeige gegen das Unternehmen – wegen des Verdachts illegaler G36-Gewehrlieferungen in die mexikanischen Unruheprovinzen Chiapas, Chihuahua, Jalisco und Guerrero. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart führte zwei Hausdurchsuchungen durch und sicherte umfassendes Beweismaterial. Zudem stellten wir im Namen der Kampagne »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!« Strafanzeige wegen des Verdachts widerrechtlicher G36-Lieferungen an das diktatorische Regime Muammar al-Gaddafi in Libyen.

Seither ermitteln die Stuttgarter Staatsanwaltschaft, das Landeskriminalamt Baden-Württemberg und das Zollkriminalamt in Köln. Zumindest im Fall des nachweislich illegalen G36-Mexiko-Deals kann Anfang 2014 mit einer Anklageerhebung gegen Verantwortliche von H&K – darunter Führungskräfte – gerechnet werden.

5. Die Heckler & Koch-Todesuhr tickt – Kunduz Tag für Tag

Wer als Kriegsreporter oder -fotograf das Unterfangen wagt, Opferzahlen bei Schusswechseln, Massenexekutionen oder gar Schlachten zahlenmäßig oder visuell erfassen zu wollen, setzt sein Leben aufs Spiel. Die aktuell veröffentlichte »Rangliste der Pressfreiheit« 2013 platziert Birma auf Rang 151, gefolgt von Mexiko (153), der Türkei (154), Ägypten (158), Pakistan (159), Saudi-Arabien (163), Sudan (170), Iran (174) und Somalia (175) – um eine Auswahl der schlimmsten Länder mit einem immens hohen Anteil an H&K-Waffen zu nennen. Die Anzahl der rund um den Globus angegriffenen bzw. bedrohten Journalisten erhöhte sich von 1959 (2011) auf 1993 (2012), die der getöteten im gleichen Zeitraum von 66 auf 89.(12)

Wie umfassend entsprechende Recherchen sind, belegt unter anderem die Studie »Body Count« der Ärzteorganisation IPPNW. Sie versuchte nach einem Jahrzehnt des »Kriegs gegen den Terror« die Zahl der Getöteten bei Militärs und in der Zivilbevölkerung im Irak, Afghanistan und Pakistan zu ermitteln. Pakistan befindet sich seit 2006 im Krieg. Laut einer Anzeige des Informationsministeriums in Islamabad ergebe sich eine Gesamtzahl von 24.467 Todesopfern im Land: 2795 Soldaten und 21.672 Zivilisten. Letzten Endes bleiben Opferangaben wie diese Schätzungen. Zum Vergleich: Der pakistanische Premierminister Gilaninannte sprach im Herbst 2011 von einer Gesamtzahl von rund 40.000 Getöteten, unter ihnen 5000 Soldaten und 35.000 Zivilisten.(13)

Trotz nicht immer verifizierbarer Faktenlage habe ich mir die Frage gestellt: Wie viele Menschen sind nach der Heckler & Koch-Firmengründung 1949 und der Wiederaufnahme der Waffenproduktion Mitte der Fünfzigerjahre durch den Einsatz von H&K-Waffen ums Leben gekommen? Die Antwort ergibt sich aus einem Konglomerat eindeutiger Tatsachen und ernst zu nehmender Schätzungen. Im Zweifelsfall habe ich Mittelwerte zugrunde gelegt.

Bei kriegerischen Auseinandersetzungen seit 1961 sollen etwa 30 Millionen Menschen ums Leben gekommen sein - 63 Prozent durch Gewehr- und 10 Prozent durch Pistolen- und Revolverkugeln.

Bei der firmenbezogenen Beantwortung der Frage helfen Aussagen bestens informierter Mitarbeiter der Oberndorfer Waffenschmiede weiter, die ich im Rahmen der Recherchen für das Schwarzbuch Waffenhandel in den vergangenen zwei Jahren getroffen habe. Übereinstimmend äußerten sie, dass der Weltmarktanteil der Oberndorfer Kleinwaffenschmiede je nach Waffengattung zwischen zehn und zwölf Prozent liege. Meine konservativen Berechnungen der Zahl der Menschen, die bis zum heutigen Tag durch den Einsatz von H&K-Waffen ums Leben gekommen sind, basieren dementsprechend auf einem Weltmarktanteil von durchschnittlich 11 Prozent.

Sie berücksichtigen die legalen H&K-Gewehrtransfers in offiziell 88 Staaten (de facto sind es weitaus mehr Länder, in denen mit H&K-Waffen geschossen wird) sowie die beachtliche Zahl nachweisbarer Lizenzvergaben, die den weltweiten Nachbau von H&K-Waffen in mindestens 17 Lizenzstätten zur Folge hatte bzw. hat.(14) Hinzu kommen Hunderttausende von Waffen, die seitens der Lizenznehmer – widerrechtlich unter Bruch der Endverbleibserklärungen – unkontrolliert und ungestraft an andere Länder weiterexportiert werden. Angesichts der mindestens 15 Millionen in Umlauf befindlichen H&K-Schnellfeuergewehre ist das G3 die Nummer zwei auf dem Globus. Eingesetzt von Soldaten und Kindersoldaten, Guerilla- und Militäreinheiten sowie Terroristen.

All diese Determinanten einbezogen, zeigt sich folgendes Ergebnis: Bis heute sind mindestens 2.079.000 Menschen durch Kugeln aus dem Lauf von H&K-Waffen getötet worden, weitaus mehr verkrüppelt und verstümmelt, nahezu alle traumatisiert. Angesichts dieser Opferzahlen ist Heckler & Koch das tödlichste Unternehmen in Europa.

Mit anderen Worten: Für die vergangenen gut fünfzig Jahre ergibt dies eine durchschnittliche Tötungsquote von 114 Opfern durch den Einsatz von Heckler & Koch-Waffen – wohlgemerkt pro Tag. Diese Zahl entspricht ziemlich genau der des Massakers von Kunduz im Norden Afghanistans. In der Nacht des 4. Septembers 2009 starben bei einem von Bundeswehroberst Klein angeforderten US-Luftangriff genau so viele Menschen, unter ihnen Kinder und Jugendliche.

Nach dem Kunduz-Massaker wurde ein Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags eingerichtet. Dagegen bleiben die durchschnittlich 114-H&K-Toten, die die H&K-Todesuhr Tag für Tag bemisst, weithin unbeachtet. Der Grund liegt auf der Hand: Das Thema ist mehr als unangenehm, Opferschicksale wie Opferzahlen schaden dem Image von waffenproduzierenden und -exportierenden Unternehmen und der die Rüstungsexporte und Lizenzvergaben genehmigenden Bundesregierung.

Bislang war es leicht, die Opferproblematik totzuschweigen. Denn die wenigsten Menschen sterben in Europa, die allermeisten auf Schlachtfeldern Afrikas, Lateinamerikas oder Asiens. Sie werden von Kugeln getroffen, fernab der hiesigen Medienberichterstattung und damit unserer Wahrnehmung. Genau dies will die Kampagne »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!« ändern – sie gibt den Opfern Stimme, den Tätern Name und Gesicht.

Mit meinem jüngst publizierten Werk Schwarzbuch Waffenhandel. Wie Deutschland am Krieg verdient füge ich der beschriebenen Opferperspektive eine zweite, nicht minder bedeutende hinzu: die der Täterprofile. Wer mehr über die maßgeblich verantwortlichen Täter in der Politik und in der Rüstungsindustrie erfahren möchte, findet darin zwei Täterrankings, die die Zahl der getöteten und verstümmelten Menschen als eines der maßgeblichen Kriterien mit einbezieht. Auf dem unrühmlichen Platz 1 rangiert der H&K-Hauptgesellschafter Andreas Heeschen.(15)

»Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!« entwickelt sich weiter. Unterstützt von der Aufschrei-Kampagne organisierte die IPPNW im Mai und Juni 2013 in Villingen nahe Oberndorf den internationalen Kongress »Zielscheibe Mensch«. Im Rahmen der Kampagne »Aiming for Prevention« präsentierte der kenianische Arzt Dr. Walter Odhiambo bedrückende Einzelschicksale von Menschen, die Opfer des Einsatzes von Kleinwaffen wurden. Zu den Täterwaffen gehört auch das G3-Gewehr.(16)

Die IPPNW publiziert mit Walter Odhiambo »One Bullet Stories«, die das Schicksal der Menschen aufzeigen. Sie sind Ziel des Kleinwaffeneinsatzes – Kalaschnikows, G3 u.a. – geworden. Für die Zukunft wurde vereinbart, die One Bullet Stories nicht erst im Empfängerland beginnen zu lassen, sondern dort, wo die Waffen ihren Ausgang nehmen – gerade auch in Oberndorf am Neckar.(17)

Wichtige Websites: www.juergengraesslin.com, www.aufschrei-waffenhandel.de, www.dfg-vk.de und www.rib-ev.de

Jürgen Grässlin ist Sprecher der bundesweiten Kampagne »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!«, Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), Sprecher der Kritischen AktionärInnen Daimler (KAD) und Vorsitzender des RüstungsInformationsBüros (RIB e.V.). Er ist Autor zahlreicher kritischer Sachbücher über Rüstungsexporte sowie Militär- und Wirtschaftspolitik, darunter internationale Bestseller. Zuletzt verfasste er das »Schwarzbuch Waffenhandel. Wie Deutschland am Krieg verdient«, Heyne Verlag München 2013. Grässlin wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem »Aachener Friedenspreis«.

Quellen mit Anmerkungen

(1) Grässlin, Jürgen: Versteck dich, wenn sie schießen. Die wahre Geschichte von Samiira, Hayrettin und einem deutschen Gewehr, München 2003; in der Volltextversion herunterladbar auf www.juergengraesslin.com > Buchautor
(2) Stuttgarter Zeitung vom 12. Mai 2010
(3) Siehe Versteck dich, a.a.O., S. 353 f. Anm.: Die Berechnungen basieren auf 41 Konfliktgebieten in den Neunzigerjahren. Modernste Waffensysteme wie Drohnenkriege sind dabei noch nicht erfasst.
(4) Grässlin, Jürgen: Schwarzbuch Waffenhandel. Wie Deutschland am Krieg verdient, München 2013, S. 410 f.: »Fünf oder sechs Patronen sind ein paar Schuhe«. Interview mit dem Friedensforscher Michael Ashkenazi vom Bonn International Center for Conversion (BICC), evangelisch.de vom 10. November 2009; »Kontrolle von Kleinwaffen und leichten Waffen«, siehe www.auswaertiges-amt.de
(5) »The AK-47: the world's favourite killing machine«, Control Arms Briefing
Note
vom 26. Juni 2006. Die Gesamtzahl der Kalaschnikow-Gewehre wird weltweit auf 70 bis 120 Millionen geschätzt.
(6) Versteck dich, wenn sie schießen, a.a.O., S. 145 ff.
(7) »Die »Siegesbilanz des Bürgerkriegs in der Türkei (1984–1999)«, siehe Versteck dich, a.a.O., S. 282
(8) Schwarzbuch Waffenhandel, a.a.O., S. 507 ff.
(9) Im Gegensatz zu allen anderen Heckler & Koch-Kleinwaffenlizenzen (MP5, HK33, G36 etc.), die sich allesamt im Besitz des Unternehmens befinden, gehört die des G3-Gewehrs der Bundesrepublik Deutschland. Dieser Umstand erklärt sich mit der »Tatsache, dass das G3 eine Auftragsentwicklung des Bundes in Zeiten der Gründung und Bewaffnung der Bundeswehr Mitte der Fünfzigerjahre war. Der Bund finanzierte die Entwicklung des Schnellfeuergewehrs vergab zwischen 1961 und 1981 alle 15 G3-Lizenzen und kassierte dementsprechend die Lizenzeinnahme.
(10) Schreiben von Jochen Homann, Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, an Jan van Aken, MdB Die Linke, vom 22.08.2011
(11) Schwarzbuch Waffenhandel, a.a.O., S. 486 ff.
(12) FOTOS FÜR DIE PRESSEFREIHEIT, REPORTER OHNE GRENZEN, Berlin 2013, S. 10 f.
(13) IPPNW (Hrsg.): Body Count: Opferzahlen nach 10 Jahren »'Krieg gegen den
Terror'. Irak Afghanistan Pakistan«
, Berlin 2012, S. 72
(14) Versteck dich, a.a.O., »Übersicht der Lizenzvergaben von H&K-Waffen«, siehe S. 393
(15) Schwarzbuch Waffenhandel, a.a.O., Einzelprofile S. 30 ff. und Täterrankings S. 571 ff.
(16) Siehe Filmaufnahme zur Rede von Dr. Walter Odhiambo auf http://www.zielscheibe-mensch.org/dokumentation.html
(17) »One Bullet Stories", siehe http://www.ippnw.org/afp/one-bullet-stories-about.html

Anm.: Dieser Artikel wurde veröffentlicht in: Jochen Marquardt, Bianca Sonnenberg und Jan Sudhoff (Hg.): Es geht anders! Neue Denkanstöße für politische Alternativen, Papy Rossa Verlag, Köln, Juni 2014